Friedhelm Marciniak schreibt: Nein, ich halte mich nicht für einen ausgesprochenen Leichtathletikfan und noch weniger für einen Experten. Auch wenn ich bei den Europameisterschaften in München und den Weltmeisterschaften in Paris und Berlin als Zuschauer dabei war. Kassel, in dem ich seit einigen Jahren wohne, ist nicht München, Paris oder Berlin. Alles ist kleiner, näher und vor allem anders. Deutsche Meisterschaften der Leichtathleten sind hier nicht ein Ereignis, sondern das Ereignis – zwei Jahr davor und noch lange danach. Die mehr als klamme Stadt hat sich den Stadionumbau aus den fleischlosen Rippen geschnitten und lange und vergeblich nach Schuldigen gesucht, als die Austragung der Meisterschaften um ein Jahr verschoben werden musste, weil der Stadionumbau nicht rechtzeitig fertig wurde. Der Einbau der Videoanlage noch rechtzeitig vor den Meisterschaften war ein zeitlicher Kraftakt, über dessen Fortschritt täglich in der Zeitung berichtet wurde. Kassel, das seine Schätze (den Bergpark, die Brüder Grimm, die documenta und seine Museen) seit Jahren mehr schlecht als recht präsentiert, hat sich bei den Leichtathleten von seiner besten Seite gezeigt: Mit weniger Straßenbaustellen als sonst und vielen reservierten Parkplätzen vor dem Stadion, die meist nur zur Hälfte belegt waren. Die Stadt hat in den Wochen vor den Meisterschaften die steigenden Vorverkaufszahlen bejubelt und nach dem etwa gleich großen Braunschweig geschielt, wo die Meisterschaften 2010 stattfanden.
Kassel hat den einzigen Rekord bei dieser Meisterschaften aufgestellt: Nie zuvor wurden bei einer Leichtathletik-Meisterschaft so viele Karten im Vorverkauf abgesetzt. Kassel lebte sein Gefühl: Wir sind auch mal wieder wer! Nicht nur die Sportkegler haben 2011 ihre Meister in Kassel gefunden, auch die Kanuten ihre Marathon-Meister gekürt. Die deutschen Mannschaftsmeisterschaften im Blitzschach fanden ebenfalls dort statt. Und dann kamen noch die schnellsten deutschen Sprinterinnen und Sprinter, die Hartings, Heidlers, Beyers und Strutz etc. Kassel hat sich auf die Meisterschaften gefreut. Im Stadion habe ich trotzdem niemanden aus Kassel getroffen, den ich kannte, dafür Bekannte aus Köln, Ratingen, Wuppertal und Braunschweig. Zufall? Neben, vor und hinter mir auf der Osttribüne saßen Menschen aus allen Teilen Deutschlands. Gut zu erkennen an ihren T-Shirts oder am Dialekt. Meist an beidem. Diese Fans brauchten kein Programmheft wie ich. Sie kannten jeden Sportler, seine derzeitigen und zukünftigen Bestzeiten. Manche hatten offensichtlich auch mit dem einen oder anderen Athleten gefrühstückt. Wie sonst könnten sie wissen, dass X nicht gut drauf ist, weil ihm sein Müsli nicht geschmeckt hat oder Y schlecht geschlafen hat und darum für eine persönliche Bestleistung bei den Meisterschaften nicht mehr in Frage kam. Sie bekamen trotzdem oder gerade deswegen ihren Beifall.
Meine Fragen, warum mal wieder ein Raunen durch das Stadionrund gegangen sei, wurden sachlich und ohne Spott über den Nicht-Experten beantwortet. Spottgesänge ober- oder unterhalb der Gürtellinie wie für die Gastmannschaften des KSV Hessen Kassel üblich, blieben aus. Und während die Fans der heimischen Fußballmannschaft wütend und mit hochrotem Kopf registrieren, dass ihr Stürmerstar das Tor mal wieder aus acht Meter verfehlt hat, und keine Erklärung dafür haben, können die Menschen um mich herum gelassen und mit einem ruhigen (76er-)Puls erläutern, warum X im Finale nicht Erster sondern nur Dritter wurde und Y zwanzig Zentimeter weniger sprang als in Götzis. Meinen elfjährigen Sohn habe ich nur selten gesehen. Er sammelte Autogramme und trug die Startnummern von Läufern und Weitspringern wie Trophäen nach Hause. Besonders dann, wenn noch eine persönliche Widmung darauf stand. Die Geduld der Sportler am Aufwärmplatz und nach dem Wettkampf habe ich bewundert. Jeder bekam sein Autogramm und auch das gemeinsame Foto. Lächelnd, ohne Rücksicht auf Hunger oder Durst. Bei Leichtathletikveranstaltungen gibt es Minuten, in denen im Stadion nicht viel passiert. Ein Laie wie ich bekommt das dadurch mit, dass sich die Plätze um einen herum wie auf ein geheimes Kommando leeren, um sich Minuten später wieder mit ihren Bratwurst kauenden Besitzern zu füllen.
Gewundert habe ich mich über die Kampfrichter, die immer noch zu ihrem Arbeitplatz marschieren und dort ihre Arbeit mit grimmigem Gesicht verrichten, als sei ihnen selbst ein zartes angedeutetes Lächeln per Statut verboten. Was bleibt in Erinnerung? Im Gegensatz zu Fußballspielen stimmt bei den Leichtathleten das Preis-Leistungs-Verhältnis. Auch gefällt mir die Stimmung im Stadion besser, weil sie friedlicher und fairer ist. Ein volles Stadion und so wenig Polizisten! Keine Männer in orangefarbenen Westen, die mit dem Rücken zum Geschehen die Zuschauer im Blick behalten wie die Dompteure ihre Tiger in der Manege. Mein persönlicher emotionaler Höhepunkt, die Sportler mögen es mir verzeihen, war der Sternlauf zusammen mit tausend anderen Läuferinnen und Läuferinnen ins vollbesetzte, applaudierende Stadion. Selbst aktiv zu sein liegt mir eher, aber ich ahne, warum die Hauptpersonen sich Tag für Tag und Woche für Woche im Training schinden. Für mich kommt diese Ahnung zu spät, aber eine andere könnte Gewissheit werden: Es werden nicht die letzten Leichtathletikmeisterschaften in Kassel gewesen sein und ich kenne zwei, die sich dann wieder eine Dauerkarte kaufen werden, nicht nur wegen der Sportler sondern auch wegen der Sitznachbarn. Ein Wunsch, auch das wurde mir klar, wird in diesem Leben nicht mehr in Erfüllung gehen: Einmal in einem Wettkampf mit einem breiten Lächeln im Gesicht das ferngesteuerte Auto dirigieren, um Speere oder Hämmer nach getaner Arbeit sicher und schnell zurück zu transportieren.
Freunde der Leichtathletik